Wer bin ich? Wo komme ich her und wo gehöre ich hin? In Fatou Diomes Roman „Der Bauch des Ozeans“ beschäftigt sich die Protagonistin Salie mit Fragen zur Identität, Heimat und Fremde, auf der Suche nach ihren Wurzeln und ihrem Platz auf der Welt.
Es ist lange her, seit Salie ihr Heimatdorf Niodor, eine Insel in Senegal, verlassen hat, um ein neues Leben in Frankreich zu beginnen. Doch ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben müssen der Wirklichkeit weichen: Nicht alles, was sie sich erträumt hat, entspricht der Realität. Ihre Gedanken drehen sich um ihre Heimat und ihre Identität, sie schwankt zwischen Sehnsucht und Erleichterung und fühlt sich nicht selten entwurzelt – so als würde sie sich weder in Niodor noch in Frankreich zu Hause fühlen.
Oft fragt sich Salie, wer sie ist und was sie ausmacht. Sie wird konfrontiert mit Vorurteilen und der Wahrnehmung anderer, die nicht ihrer Selbstwahrnehmung entspricht. Ihre Identität gleicht einem Mosaik, einer Konstruktion, bestehend aus Erfahrungen, Vorstellungen und ihrer Herkunft. Dabei ist die Vergangenheit ebenso relevant wie die (mögliche) Zukunft: „Wir erinnern uns immer nur an das, was unser aktuelles Bild von uns bestätigt. Schon das ist also eine Konstruktion.“ (Abels 2010: 249)
Abels‘ Auslegung der konstruierten Identität – diese sei eine „behauptete und geglaubte Identität“ (Abels 2010: 16) – geht von verschiedenen Faktoren aus: Hierzu gehören familiäre Verpflichtungen, Traditionen und gesellschaftliche Erwartungen. Die Idee einer möglichen Zukunft sei geleitet von Zielen und unterschiedlichen Wegen: „Das Bild, das wir von uns unter der Perspektive unserer individuellen Ziele haben, bleibt vage und muss auch so bleiben, wenn wir nicht Chancen der Zukunft verspielen wollen.“ (Abels 2010: 251)
Stereotypisierung als „Hilfs-Konstruktion“
Nach Frankreich ist Salie emigriert, weil sie einen Franzosen geheiratet hat. „Kaum angekommen, verdunkelte meine Haut das Idyll. Seine Familie wollte lieber ein Schneewittchen, die Ehe war kurz, die Strafe hart.“ (Diome 2004: 44) Nach dieser „Niederlage“, die ihr viele prophezeit hatten, will sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Sie widmet sich dem Studium: „Ich mühte mich ab, um zu beweisen, daß mein Weg, der ihnen völlig fremd war, zu etwas führte. Erfolg ist meine einzige Chance, den Zweck zu erfüllen, den bei uns jedes Kind hat: soziale Sicherheit für die Familie.“ (Ebd.: 46)
„Aber ich weiß, daß ich im Westen andere Schritte mache als jene, mit denen ich die Gassen, Strände, Pfade und Felder meiner Heimat erkundet habe. Die Bewegung ist überall die gleiche, nur der Horizont wechselt. In Afrika folgte ich der Spur des Schicksals, die aus Zufall und unendlicher Hoffnung bestand. In Europa marschiere ich durch den langen Tunnel der Leistung auf wohldefinierte Ziele zu.“ (Diome 2004: 10)
Zwischen den Erwartungen der Familie und ihren eigenen Bedürfnissen pendelnd, sucht Salie nach Orientierung. Vorurteile ihr und Frankreich gegenüber ergeben ein Fremdbild, mit dem sie sich nicht identifizieren kann. Sie glaubt, nichts an der Überzeugung der Familie ändern zu können: Wer aus Frankreich kommt, muss zwangsläufig reich sein; „Allen geht es gut, niemand ist wirklich arm.“ (Diome 2004: 91)
Dieses Phänomen der Stereotypisierung beschreibt Boerner unter anderem als „eine Hilfs-Konstruktion, in der alle einschlägigen Beobachtungen und Reflexionen zusammengefaßt sind.“ (Boerner 1975: 315) Diese „Hilfs-Konstruktion“ findet sich an mehreren Stellen im Roman wieder: Wenn die Niodor-Bewohner beispielsweise den Geschichten Reisender lauschen und ihnen die Märchen über das Leben in Europa, die sie zu hören bekommen, glauben. Da sie selbst keinerlei Erfahrungen im Ausland gesammelt haben, sind sie auf diese Geschichten angewiesen, um sich das, was sich in der „Fremde“ abspielt, vorstellen zu können.
Identitätskrise und Heimatlosigkeit
Die Herkunft, der Ort, an dem man aufgewachsen ist, oder auch „Heimat“, spielt stets eine große Rolle: „Abgesehen von ganz persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen steht Heimat allgemein für die Verbundenheit mit einem Landstrich, das Bewahren von Brauchtum und die Rückwendung ins Überschaubare, Althergebrachte.“ (Heinze/Quadflieg/Bühring 2011: 7)
Einerseits geben Traditionen dem Individuum Orientierung im Handeln, andererseits ergeben sich hieraus Verpflichtungen, die im Handeln und Denken einschränken können. Das richtige Abwägen zwischen gesellschaftlichen Verpflichtungen und eigenen Interessen, macht, so Abels, die Identität aus:
„Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben.“ (Abels 2010: 258)
Das Fehlen dieses Gleichgewichts kann zu einer Identitätskrise führen. Nicht unbedeutend sind hierbei äußerliche Einwirkungen, wie beispielsweise kulturelle Veränderungen – oder im Gegenteil: keinerlei Veränderungen in einer krisenhaften Lebenssituation –, die eine Verschiebung des Wertesystems herbeiführen.
Wenn Heimat und gesellschaftliche Zugehörigkeit also dabei helfen können, sich selbst zu finden und zu einem Individuum zu werden, kann die Heimatlosigkeit zum Stolperstein werden. Die Fragen nach der Identität lassen sich dann – wie auch „Der Bauch des Ozeans“ veranschaulicht – nicht so einfach beantworten. Vielmehr wird in diesem Roman die Wechselwirkung zwischen Identität und Heimat deutlich: Man kehrt immer wieder zu den Wurzeln zurück, in der Hoffnung, dort Antworten auf all die Fragen nach dem eigenen Sein und dem, was uns ausmacht, zu finden.
Heimweh
Es sind die Einsamkeit und die Erinnerung an die Wärme Afrikas, die bei Salie das Gefühl von Heimweh hervorrufen: „Heimweh ist ein Schmerz, den der herzlichste Empfang nicht heilen kann.“ (Diome 2004: 263) Die Menschen, die Salie in Frankreich kennengelernt hat, können ihre Familie in Niodor nicht ersetzen. Heimweh entsteht, so Bernet, „nach einem meist unfreiwilligen Verlassen der Heimat und äußert sich in einer mangelnden Anpassung oder Akklimatisierung an die neuen Lebensumstände.“ (Bernet 2011: 88)
Wenngleich Salies Entschluss, einen Franzosen zu heiraten und ihm nach Frankreich zu folgen, freiwilliger Natur ist, spielt die Intention, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, eine ebenso ausschlaggebende Rolle. Die negativen Erfahrungen, die sie als Kind macht, tragen ihren Teil dazu bei, ihrem Heimatort den Rücken zu kehren, um in der „Fremde“ ein neues Leben zu beginnen. Als uneheliches Kind hat Salie mit Demütigung und Ausgrenzung zu kämpfen. Das geht so weit, dass ihre Mutter sie vor ihrem Stiefvater nicht mehr schützen kann und Salies Großmutter sie bei sich aufnehmen muss. Später lernt sie von ihrem Lehrer Ndétare: „Du wirst in diesem Dorf fremd bleiben, wie ich, und du kannst dich nicht jedesmal schlagen, wenn jemand über deinen Namen spottet.“ (Diome 2004: 82)
„Ich bin überall fremd.“
Wenn Salie in ihre Heimat zurückkehrt, fühlt sie sich als eine Fremde. Einerseits, weil sie als solche wahrgenommen wird: So wird sie mit den Worten „Willkommen in unserem Land!“ (Diome 2004: 208) begrüßt, weil aus ihrem Ausweis hervorgeht, dass sie aus Frankreich kommt. Selbst diejenigen, die sie kennen, sehen sie als eine Fremde an: „Fahre ich nach Hause, dann komme ich in die Fremde, denn für die, die ich immer noch die Meinen nenne, bin ich die Andere geworden.“ (Diome 2004: 176)
Andererseits hat sie sich verändert; ihre Einstellung kollidiert mit dem, was die Tradition ihrer Heimat erwartet. Während die Frauen in Niodor ihren Pflichten als Mütter und Hausfrauen nachgehen, „ohne nachzudenken“ (Diome 2004: 180), sieht sich Salie als eine „gemäßigte Feministin“ (Diome 2004: 41). Dass diese Lebensweisen und Einstellungen nicht zusammenpassen, sehen auch die Frauen aus Niodor. Als Salie zu Besuch in ihrer „Heimat“ ist, wird sie von den Tätigkeiten, denen die Frauen nachgehen, ausgeschlossen. Ein Teil von Salie ist froh darüber, ein anderer fühlt sich ausgegrenzt.
„Ich bin überall fremd. Und immer trage ich mein unsichtbares Theater mit mir herum, in dem es von Gespenstern nur so wimmelt. Die Bühne ist mein Gedächtnis. Wenn ich nicht schlafen kann, leuchtet mir die Erinnerung und zeigt mich inmitten meiner Familie. Fortgehen heißt, du trägst nicht nur alle mit dir herum, die du geliebt hast, sondern auch alle, die du gehaßt hast. Fortgehen heißt, du wirst zu einem wandelnden Grab voller Schatten von Lebenden und Toten, die vor allem ihre Abwesenheit gemeinsam haben. Fortgehen heißt, daran zu sterben. Du kehrst natürlich zurück, bist aber ein anderer Mensch. Du findest die, die du verlassen hast, nicht wieder, auch wenn du jedesmal von neuem nach ihnen suchst.“ (Diome 2004: 241–242)
Salies Empfinden, nirgendwo zu Hause zu sein, nirgendwo richtig hinzugehören und dennoch Spuren unterschiedlicher Kulturen mit sich zu tragen, deutet auf eine hybride Identität hin. Hybridität, so Hofmann, sei „eine Mischung zwischen den Tendenzen verschiedener Kulturen“ (Hofmann 2006: 28), die in diesem Roman stets deutlich wird, sobald Salie den Ort wechselt und mit dem „Anderen“ konfrontiert wird. Während sie in Frankreich durch ihre Hautfarbe auffällt und allein schon deshalb fremd wirkt, ist sie in Senegal diejenige, die von anderen als „Fremdgewordene“ wahrgenommen wird. Signifikant sind hierbei die kulturellen Unterschiede auch im Hinblick auf die Emanzipation und Tradition, die es Salie schwer machen, sich anzupassen.
Alter Ego
Die Identität im Roman „Der Bauch des Ozeans“ hat nicht nur inhaltlich Bedeutung, sondern auch kontextuell. Genauso wie die Protagonistin Salie wurde auch die Autorin als uneheliches Kind im senegalesischen Fischerdorf Niodior geboren und ist mit zweiundzwanzig Jahren mit einem französischen Entwicklungshelfer nach Frankreich emigriert. Ablehnung, Scheidung, Erinnerungen an die Kindheit – Salie fungiert in diesem autobiografisch angehauchten Roman als Alter Ego, über das die Autorin ihre fiktionale Identitätsbildung erbringt.
„Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. Was wir sagen, steht immer ‚in einem Kontext‘ und ist positioniert.“ (Hall 1994: 26) Wenngleich diese Aussage auf jede:n Autor:in zutreffen kann, so ist sie gerade in einem autobiografisch anmutenden Roman spürbarer. Stets scheint die Verbindung zwischen Salie und Diome da zu sein, auch wenn unklar bleibt, inwieweit das Erzählte fiktiv oder biografisch ist.
Hier kommt das „Andere“, das immer wieder im Roman thematisiert wird, erneut ans Licht: Es geht nicht mehr nur um die „Anderen“, sondern um das eigene, andere „Ich“. Eine Parallelwelt, in der es sich befindet, gleiche Erfahrungen macht, möglicherweise aber auch „andere“ – hier kommt Abels‘ Theorie zum Tragen: Relevant ist nicht nur die mögliche Zukunft, die Salie/Diome die Wege offen lässt, sondern auch die fiktive, andere Identität, die hier als „Alter Ego“ in Erscheinung tritt.
Primärliteratur:
- Diome, Fatou: Der Bauch des Ozeans. Zürich. 2004.
Sekundärliteratur:
- Abels, Heinz: Identität. Wiesbaden. 2010.
- Bernet, Rudolf: Heimweh und Nostalgie, in: Heinze, Martin; Quadflieg, Dirk; Bührig, Martin (Hg.): Utopie Heimat – Psychiatrische und kulturphilosophische Zugänge. Berlin. 2011.
- Boerner, Peter: Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung, in: Sprache im technischen Zeitalter 56, 1975.
- Elçin Kürşat-Ahlers, Hans-Peter Waldhoff: Die langsame Wanderung – Wie Migrationstheoretiker der Vielfalt gelebter Migration nachwandern. in: Gesemann, Frank (Hrsg.): Migration und Integration in Berlin – Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven. Opladen. 2001.
- Florack, Ruth: Bekannte Fremde – Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen. 2007.
- Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität – Ausgewählte Schriften 2. Hamburg. 1994.
- Heinze, Martin; Quadflieg, Dirk; Bührig, Martin (Hg.): Utopie Heimat – Psychiatrische und kulturphilosophische Zugänge. Berlin. 2011.
- Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Paderborn. 2006.
- Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart. 2003.
- www.diogenes.ch/leser/autoren/d/fatou-diome.html (letzter Aufruf am 20.04.22, 12:50 Uhr)
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